Nicht so schlimm – war doch authentisch! Aber war es auch professionell?

„Authentizität“ sollte nicht mit Professionalität konkurrieren müssen
Nach der Rede eines Präsentierenden, der den Faden verloren hat, hören wir häufig: „Ach, aber das war doch authentisch“. Oder in einer Besprechung, in der Ihre Kollegin bei Gegenwind ins Stocken geraten ist, war sie mindestens authentisch, vielleicht sogar sympathisch. Und auch die Freundin, die bei ihrer ersten Präsentation auf der Bühne verständlicherweise nervös war und deshalb so schnell gesprochen hat, dass sie kaum jemand verstanden hat, „war doch trotzdem authentisch“. So wird das Wort „authentisch“ als Rechtfertigung verwendet. Gleichzeitg lautet die entscheidende Frage: War es auch professionell?

Es ist richtig – in allen drei Beispielen waren die Personen authentisch und es ist auch richtig, dass diese Situationen nachvollziehbar sind, uns sympathisch machen und ein wichtiger Schritt für unsere Weiterentwicklung sein können. Wir sollten von uns selbst nicht erwarten, perfekt zu sein, schon gar nicht beim ersten Mal; hier ist es sicher sinnvoll, sich über unsere Fehlerkultur Gedanken zu machen. Aber: Das Wort „authentisch“ bekommt hier eine Konnotation der Rechtfertigung, die es nicht verdient hat. Es wird missbraucht, um Situationen, in denen etwas nicht so gut oder anders als geplant abgelaufen ist, zu entschuldigen. Wenn ich mich am Set darüber ärgere, dass wir einen Take zum 23. Mal wiederholen müssen, weil schon wieder jemand durchs Bild gelaufen ist, und ich meinem Ärger während der Aufnahme Luft mache, den Hintergrundton voll spreche, bin ich dann auch authentisch? Schließlich handle ich damit nach meinen Emotionen. Allerdings ist dann der Ton unbrauchbar und die Atmosphäre gestört. Hier ist dann doch eher Professionalität gefragt und die sollte nicht mit dem Begriff „Authentizität“ konkurrieren müssen.

Wenn ich meine Gefühle unterdrücke – bin ich dann noch echt?
Sicher, denn wir alle haben gleichzeitig so viele unterschiedliche Facetten und Rollen in uns wie z.B. die Schwester, die Mutter, die Tochter, die Lehrende, die Zweifelnde, die Schüchterne, die Lustige, die Selbstbewusste, … In jeder Situation sind andere Facetten gefragt. Professionell ist es, in einer Situation die passenden Facetten zu nutzen. Während eines Vortrags beispielsweise bleiben bei mir die Schüchterne, die Unsichere, die Tochter, die kleine Schwester etc. außen vor, dafür nutze ich meine Facetten und Rollen der Wissenschaftlerin, Lehrenden, Einfühlsamen etc. Wenn ich mir diese bewusst mache, bringt mich das in die richtige Stimmung, sodass erst gar keine Emotion unterdrückt werden muss, sondern der Fokus einfach nur auf andere Facetten – nämlich die in dieser Situation gefragten – gelegt wird. Wer dazu noch mehr wissen möchte, erfährt in den Büchern von Schulz von Thun noch mehr zum „inneren Team“. Es macht großen Spaß, sich auf die Situation einzulassen und nach ihr und den Bedürfnissen der Anwesenden zu handeln. Das ist zielführend, effektiv und sowas von authentisch.
Weitere Situationen, in denen Authentizität vorgeschoben wird, finden Sie hier in meinem Blog.

Nicht authentisch sein ist notwendig für unsere Weiterentwicklung
Ein zweiter Grund ist, dass unser Drang nach Authentizität uns sogar an unserer Weiterentwicklung hindern kann. Denn neues Wissen und neue Verhaltensweisen fühlen sich für unser Gehirn zunächst falsch an. Es ist unbequem, nicht so wie sonst, nicht normal. So kann es in einem Training bei der Anwendung einer neuen Technik vorkommen, dass ein Teilnehmer sagt: „Nein, das fühlt sich nicht nach mir an.“ Er hat das Gefühl, diese Technik passt nicht zu ihm. Logisch, tut sie auch nicht, noch nicht, denn sie ist neu. Und an Neues muss sich unser faules Gehirn erst gewöhnen, denn es strebt nach dem geringst möglichen Aufwand, schließlich hat es schon genug zu tun. Erst wenn wir dem Neuen eine realistische Chance geben, es in unseren Alltag implementieren, kann es sich natürlich anfühlen und somit auch authentisch. Das ist der Grund, weshalb viele nach einem Ein-Tages-Seminar schnell wieder in alte Verhaltensweisen zurück fallen. Sie haben gar keine Gelegenheit, dem Neuen eine echte Chance zu geben, es wirklich auszuprobieren und sich daran zu gewöhnen. So fallen viele schnell wieder in ihre alten Verhaltensweisen zurück. Es ist bequemer.

Sie können mir glauben – ich habe schon so vieles gemacht, was sich für mich nicht authentisch angefühlt hat, jetzt bin ich dankbar dafür, dass ich dem Neuen eine Chance gegeben habe: Z.B. dem Ablegen meines fränkischen Dialekts und Erlernen der Hochsprache (natürlich bin ich immernoch des Fränggischen mächtig), eine aufrechte Haltung, nachdem ich aufgrund meiner Größe lange die Schultern nach vorne gezogen hatte, oder auch zu lernen, einfach mal die Klappe zu halten, wenn ich nichts mehr zu sagen habe. Punkt.